Hans J. Wulff, Oktober 2007

Ein Brief zu „Calexico Next Exit“

Manche Filme kommen aus dem Nichts wie Gestalten aus dem Nebel. Entdeckungen ohne Vorankündigung. Filmfest Osnabrück, Samstagvorabend. Der Film ist vorbei, von dem wir nur den Titel kannten. Nach dem Film: Die gewisse Überraschung noch spürbar, wie so oft bei Filmen, von denen man nichts wußte. „Kein Band-Film!“ warnte die junge Frau noch, die den Film anmoderierte. Dann ging‘s los, mit einem der leichtesten und heitersten Filmanfänge der letzten Jahre. Die Band setzt ein, langsam, suchend, noch unsicher. Die beiden Filmemacherinnen nutzen die Ruhe zu Beginn des Musikstücks, um ihre Protagonisten vorzustellen. Rhythmisch sicher, in Gesten und Bewegungen, die schon auf die Sympathie des Films mit seinen Figuren hindeuten. Dann setzt die Durchführung der Musik ein - Schnitt: auf der Straße, in Bewegung. Eine gleitende Bewegung, die nicht mehr aufhört, ein Rhythmus, der bis an den Schluß des Films trägt.

Bewegung, das ist auch eines der Tiefenthemen des Films. Die Managerin der Band, die erst während des Schnitts in das Konzept aufgenommen wurde, erzählt von der Anstrengung und der Lust, Konzertreisen oder Konzerte zu organisieren. Von der ununterbrochenen Bewegung des Lebens auf Tournee. Von der Freundlichkeit der Menschen, die man auf den Reisen trifft (und von der perfiden Tendenz des Fernsehens, nur die negativen Züge im menschlichen Verhalten zu besprechen). Dennoch: kein Road-Movie.

Auch kein Film über „Calexico“, die deutsch-amerikanische Band, benannt nach dem mexikanischen Grenzstädtchen, das der Band und die wiederum dem Film den Namen gab. Wenige Konzertausschnitte. Eine ganze Reihe von schnell hintereinander geschnittenen Bildern, die die Band beim Aufbau der Bühne zeigt, in den verschiedensten Städten. Dann aber wieder radikale Rücknahme des visuellen Tempos: Manchmal klingen Ausschnitte aus den langsamen Stücken, mit verwehenden Phrasen, als würde der Wind die Musik auseinandertreiben. Dazu nicht etwa Bilder der Band, sondern nichtssagende, oft trostlose Straßenszenen. Der ebenso klagende wie sehnsuchtsvolle Duktus der Musik ergreift die Bilder. Diese Zwischen- und Übergangsszenen sind viel zentraler, als es zunächst scheint - je öfter man sie sieht, desto mehr scheinen sie zum allegorischen Zentrum der Erzählung zu werden und zu signalisieren: Hinter diesen leeren und nichtssagenden Bildern liegt eine Kraft, die über den Alltag hinausweist. Eine Kraft, die selbstgenügsam und blind scheint, die nichts will, keinen Reichtum und kein ewiges Leben.

Den Fans scheint diese Energie vertraut zu sein. Eigentümlicherweise richten sie sie nur auf die Gruppe, die diese Musik macht. Es ist nicht irgendeine Musik, sondern dieser gewisse Klang, diese gewisse Rhythmik, diese gewisse affektive Haltung (welche tieferen emotionalen Schichten die Musik anspricht, thematisiert der Film nicht, respektiert dieses als etwas Privates und Geschütztes). Die Bindung der Fans an die Band ist paradox und melancholisch, das macht den Film eigentlich romantisch. Dass der Name nach TexMex riecht, nach Abenteuer und Tequila, nach Hitze und Leidenschaft, spielt kein Rolle.

„Was haben ein Bankangestellter aus Izhevsk am Ural, ein IKEA-Aushilfsfahrer aus Berlin, eine Hausfrau und ein Karstadt-Hausmeister aus Lörrach sowie ein Unidozent aus China gemeinsam?“ fragen die Filmemacherinnen. Sie erzählen von vier Fans, die sie im Internet gefunden haben, zu denen sie Kontakt aufnahmen, selbst erstaunt über die globale Bekanntheit der Band. Der Russe, der 192 Liveaufnahmen besitzt, der Deutsche, der T-Shirts mit Band-Namen sammelt, der Chinese, der noch nie aus seinem Land herausgekommen ist, das mittelalte Ehepaar, die den Konzerten der Deutschlandtournee getreulich nachreisen und nebenbei Wassertürme photographieren. Für alle markiert die Band eine subjektive Bedeutung, die unerhört ist, und für die die Band wohl nur einen Stellvertreter darstellt. Die Band gibt einer subjektiven Energie Gesicht und Namen, die sich sonst vielleicht gar nicht artikulieren könnte.

Keine einsträngige Geschichte, das soll die Überlegung nicht suggerieren. Eher einem Kaleidoskop ähnelnd, eine Bewegung durch Themen, die man berührt, wenn man den Fan-Figuren folgt wie der Film. Der Russe bemüht sich um Ausreise, die Deutschen machen eine Urlaubsreise, der Deutsche philosophiert über die Bedeutung von Signalen in der Populärkultur, wenn er seine T-Shirts bespricht. Die Band gibt ein Benefiz-Konzert für diejenigen, die illegal in die USA einzureisen versuchen. Große und kleine Themen, solche, die nur Individuelles, andere, die viel Umfassenderes betreffen, assoziativ mit der Band und den Fans verbunden, wie Perlen auf eine Kette aufgezogen. Auch dies gibt dem Film eine Modernität, die bemerkenswert ist. Die „große Geschichte“ bleibt aus, es gibt keinen Anfang und kein Ende. Aber es gibt eine Welt der Sehnsuchtskräfte und Wunschenergien, die eben nicht aufs Materielle ausgerichtet sind. Eigene Wunsch-Kräfte auf eine ferne Band auszurichten, sich im Bemühen, die Band zu finden, selbst zu begegnen - das zweite Paradox des Films, der von Personen handelt, die ein imaginäres Zentrum umkreisen und gerade darum ganz bei sich zu sein scheinen.

Genau diese Irritation macht den Film so wertvoll und modern. „Freaks!“ könnte man schimpfen, von Realitätsverlust und von der Irrelevanz der Musik sprechen. Von Wunschenergien, die man sich konkreter wünschen könnte. Und von einer tiefgreifenden Entfremdung der Protagonisten des Films. Aber der Film erzählt von einer Bindung, die lange Vorgeschichte hat und in der Geschichte der Kunstfaszi-nation mit der Romantik aufkam. Verwehte und manchmal weltfremde Gestalten, die dann ganz zu sich kamen, wenn sie Künstlerisches besangen - die Spuren des trunkenen jungen Mannes, der bei Heine vor dem Schrank stand und die gelbe Lederhose als Mond besprach, sind durchaus spürbar, wenn man dem Russen lauscht, der mit glänzenden Augen von seinen Versuchen, zu einem Konzert der Band zu kommen, erzählt. Eigentlich ist die Reise das Sinn-Zentrum, um das seine Erzählungen kreisen, nicht die Musik. Für alle sind die Bemühungen um die Band Versuche, kleine aber subjektiv höchst ertragreiche Sinn-Horizonte zu entwerfen. Es sind minimalistische Akte des Ausbruchs, der Emanzipation, der Negation des Alltäglichen. Die Bindung an die Band macht die Fans unterscheidbar von allen anderen, in jedem Land anders, womöglich in jedem einzelnen Fall anders. Sie sind Mitglieder einer weltweit durch das Netz miteinander verbundenen Geheimgesellschaft. Auch diese privatistische Form der Globalisierung unterscheidet sie von den anderen.

Nur kluge Filme können dazu verleiten, in ihr inneres Gewebe eindringen zu wollen. Dieser lohnt.

PS: „Calexico Next Exit“ steht übrigens auf dem Schild einer Highway-Abfahrt in Süd-Kalifornien.